Der Tag beginnt … fast zu gut um wahr zu sein. Ich wache in meiner gemütlichen Herberge auf, und – man glaubt es kaum – meine Füße fühlen sich erstaunlich gut an. Die Wasserblase? Hat sich beruhigt, gestern nochmal trockengelegt und gut ist alles. Es gibt Frühstück – und zwar eins, das so richtig Freude macht mit frischen Brötchen, Käse, Wurst, Müsli und Co.. Gemeinsam mit Dominika von gestern lasse ich es mir schmecken, bevor ich mich – ganz nach Camino-Art – zum Entrümpeln entschließe.
Denn: weniger Gewicht = weniger Schmerz. Also fliegen das neue Strandhandtuch, ein kleines neues Ersatzhandtuch, diverse Cremes und Blasenmittelchen raus, die ohnehin nur Deko waren. Ergebnis: Der Rucksack fühlt sich plötzlich federleicht an – fast zumindest. Die Hoffnung auf einen richtig guten Tag ist da, sollte sich aber zunächst nicht bestätigen.
Die Strecke selbst hat es wirklich in sich. Ich gönne mir ein paar Pausen, unter anderem in einer Kneipe „St. Michael“ voller Portugiesen. Es wird geredet, gelacht, Karten gespielt – ein echtes Alltagskino. Ein alter Mann fällt die Treppe herunter, schlägt sich die Nase blutig – doch statt Drama nur Solidarität. Minuten später sitzt er wieder mit am Tisch, als wäre nichts gewesen und sie zanken sich im Spiel. Portugiesischer Pragmatismus – vorbildlich.
Die ersten Eukalyptus-Blütenknospen begleiten mich die letzten 208 km – sie sind für euch 🤍🤍
Währenddessen wandert die Sonne sukzessive zum Zenit und der ist brutal. Die letzten Kilometer werden zur Hitzeschlacht. Ich fließe förmlich zur Herberge, die ich glücklicherweise am Morgen gebucht hatte. Verständigung? Zunächst nicht einfach, aber machbar. Die Gastgeberin spricht wenig Englisch, aber mit WhatsApp und ein bisschen Deepl.com klappt es ganz gut. Gebucht. Und dann?
Als ich erschöpft ankomme, wartet ein Mann am Eingang auf mich und bittet mich herein. Zuerst hatte ich den Eindruck, dass es ein anderes Haus ist und mich jemand zielstrebig von meiner eigentlichen Buchung abwerben möchte. Ich werde aber herzlich begrüßt, bekomme leckere Kirschen und Obst aus der Region und dazu ein kühles Bier. Der Mann zeigt mir sein Haus, seine Ferienwohnung präsentiert alles mit einem wahnsinnig ehrlichem und sympathischen Stolz. Wohlverdient denn es ist wirklich wunderschön. Ich bekomme ein Einzelzimmer – mitten im Familienleben. Kein separates Gästehaus, kein anonymer Check-in. Ich bin sofort Teil der Familie. Es wird gegessen, geredet, gelacht. Ich bekomme alle Spezialitäten, welche die portugiesische Küche zu bieten hat: selbstgemachte Vorspeisen wie in Salzwasserlauge eingelegte Lupinensamen mit Zitronen aus Omas Garten, selbst gemachten luftgetrockneten Schinken mit Brot, das von Herzen kommt. Der Mann erzählt mir, dass er Gemüsehändler ist und tagsüber mit dem LKW durch die Gegend fährt. Seine Frau ist Kindergärtnerin – und weiß wie sie Gaumenfreuden zaubert – auf allerhöchsten Niveau.
Doch es bleibt nicht bei der Vorspeise. Später fährt mich der Hausherr im Suzuki Jeep zu seinen Schwiegereltern. Wir trinken dort leckeren Wein, probieren selbst geräucherte Spezialwürste, und ich erfahre alles über ihre unterschiedlichen Räucheröfen, mit denen sie nicht nur Fleisch, sondern auch Brot backen.
Und als wäre das nicht schon genug, nimmt er mich mit hinauf auf die Berge, zeigt mir die Aussicht, erklärt mir die Traditionen der Sonntagsprozessionen und am Ende ein umwerfender Blick über das Tal der Glückseligkeit – unbezahlbar.
Zurück im Domizil „Casa do Passal“ (Rua do Passal N.21, Belinho) wartet ein Abendessen, das mein Pasta-Herz höherschlagen lässt: Nudeln mit Thunfisch und Oliven – hausgemacht, gehackte rote Zwiebeln und Knoblauch versteht sich. Wieder ein Glas Wein, wieder ein Lächeln mehr im Herzen.
Fazit: Was als unspektakulärster Wandertag begann, wurde zur emotionalen Hochschaubahn voller Herzlichkeit, Gastfreundschaft und echter Begegnung. Der Camino gibt – heute mehr denn je.
Und ich kann nur sagen: Ich habe heute nicht nur ein paar Kilometer geschafft. Ich habe ein kleines Stück Heimat gefunden – mitten in Portugal. Und genau das sind die Momente, die den Camino unvergesslich machen – nicht das Wandern, nicht die zurückgelegte Distanz oder gar das Ziel.
Es geht darum das Leben geschehen zu lassen, unerwartetes zuzulassen und dabei jeden Augenblick zu genießen. Ich bin unendlich dankbar liebe Gastfamilie.
Buen Camino
Nachtrag – KI als Brückenbauer
Ich war auch in den Gesprächen, Teil der Familie. Die Verständigung mit der Gastfamilie und ihren Schwiegereltern. Erstaunlich einfach – dank ChatGPT.
Ich habe den Spracheingabe-Modus genutzt, bei dem GPT simultan alles Gesprochene übersetzt: Deutsch ins Portugiesische, Portugiesisch ins Deutsche. Und das mit einer Trefferquote von etwa 90%. Der Effekt? Wir konnten stundenlang reden, lachen, erzählen – fast so, als würden wir dieselbe Sprache sprechen.
Technik, die verbindet. Nicht nur Wörter – sondern Menschen.