Zum Inhalt springen
Startseite » Blog » #Tag 28: Leben im jetzt

#Tag 28: Leben im jetzt

Der letzte Tag beginnt ruhig. Noch vor Sonnenaufgang – und mit einem Flug, der längst hätte Routine sein sollen, aber es dann doch nicht ist. Ursprünglich war der Abflug für 10:45 Uhr angesetzt. Doch schon am Vortag kündigt sich Verzögerung an: neuer Plan, 12:50 Uhr. Was das heißt? Warten. Viel Warten. Noch einmal Geduld üben – alles gut. Noch einmal Camino, nur mit Rumsitzen statt Wanderwegen.

Ich habe gut geschlafen. Ruben bringt mich pünktlich um 7:50 Uhr zum Flughafen – auch das ein stiller Abschied. Keine großen Worte. Nur ein Blick, ein Danke. Der Check-in läuft reibungslos, alles bleibt wie es soll. Und während ich nun im Terminal sitze und auf die Öffnung der ersten Cafés warte, lasse ich den Camino in mir weiterlaufen.


Ich denke darüber nach, was meinen Camino so besonders gemacht hat. Und ich erinnere mich an die vielen Gespräche mit anderen Pilgern. Ihre Highlights? Gebäude. Städte. Kilometer. Die tägliche Erschöpfung. Aber was ist mit den Geschichten aus dem Land? Den Menschen? Den Momenten, die keiner planen kann? Fehlanzeige.

Jedes Mal, wenn ich meine Erlebnisse teile, staunen sie. Sie sind denselben Weg gegangen – und doch einen völlig anderen. Und ich frage mich: Bin ich einfach ein Glückspilz? Oder mache ich etwas anders?

Ich glaube: ja. Ich gehe ohne Erwartungen. Ich lasse mir Zeit. Ich rede mit den Menschen, beobachte, höre zu. Ich nehme den Weg, wie er kommt. Ich erzwinge nichts – und öffne mich für alles. Vielleicht ist es genau das, was meinen Camino so besonders macht. Zumindest für mich. Und vielleicht ist das auch alles, was zählt – für mich auf jeden Fall.

Während ich hier sitze, beginnt schon mein Kopf, den nächsten Camino zu planen. Nicht sofort. Vielleicht in drei Jahren. Aber sicher ist: Ich werde ihn wieder gehen. Und dieses Mal nehme ich ein paar kleine Lehren mit – praktische Dinge, aus Erfahrung gewachsen. Für mein zukünftiges Ich, und für euch:



I. Was habe ich gelernt?

Ich frage mich – was nehme ich mit von diesem Weg, von diesen Tagen voller Hitze, Blasen, Begegnungen und Stille? Was bleibt – außer den Kilometern?

Es ist das Bild der Fischer vom gestrigen Tag. Das Leben von Ruben, meinem neu gewonnenem Freund in Porto. Dieses tiefe, stille „Jetzt“, in dem sie leben. Nicht für morgen, nicht für den Ruhm, nicht für ein Ziel, das am Ende doch niemand sieht. Sie leben im Moment. In der Sonne, im Wind, mit ihren Familien, mit ihren Geschichten und mit sich selbst. Sie brauchen uns nicht. Sie brauchen keinen Applaus. Sie leben – einfach so. Und sind dabei … glücklich.


Meine liebe Schwester schickt mir dazu eine sehr passende „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Heinrich Böll die mir die Erkenntnis in die Augen treibt. Danke für deinen Impuls 🤍. In dem Werk liegt ein Fischer in seinem Boot am Strand, döst in der Sonne, als ein Tourist ihn mit großen Plänen und ehrgeizigen Businessmodellen überfällt. Am Ende sagt der Tourist, wenn der Fischer nur hart genug arbeitet, könne er später, viel später, eines Tages vielleicht … genau das tun, was er jetzt schon macht: In der Sonne liegen. Aufs Meer blicken. Einfach da sein. Der Fischer schaut ihn an – und sagt leise: „Aber das mache ich gerade. Jeden Tag.“


Und ich? Ich bin näher dran als je zuvor. Es liegt an mir, jeden Tag erneut.



II. Camino-Rückblick

  1. Nur ein kleines Medikamentensäckchen. Kein doppelter Kram. Pflaster, Waschmittel, Deo – alles klein, leicht, einmal. Alles andere gibt’s unterwegs. Ausnahme: Deo. Mini-Flasche, eine pro Woche. Omnifix 10cm mit 10 Meter bleibt Lebensnotwendig.
  2. Nur ein leichtes Handtuch. Kein Badetuch. Kein Schnickschnack.
  3. Schlafsack im Sommer? Fehlanzeige. Hüttenschlafsack? Ja. Aber eine ultraleichte Sommer-Variante.
  4. Kein unnötiger technischer Schnickschnack: iPad Mini, Massagepistole. Bedarf nicht existent.
  5. Nur ein leichter Pullover. Kein zweiter. Kein Zwiebellook. Im Sommer reicht eine Lage – alles andere ist überflüssig.
  6. Ein Notfall-Powerriegel. Für den Tag, an dem nichts klappt. Den gibt’s immer, aber einer ist ok.
  7. Vor dem Packen bei jedem Utensil die Frage: Würde ich das behalten, wenn ich Blasen hätte? Wenn nein – raus damit. Das Gewicht von 7kg nicht überschreiten. Gibt Balsen!
  8. Und ganz wichtig: Den Rückflug weiterhin nicht vorbuchen. Auch nicht zwei, drei Tage vorher. Santiago ist teuer, und künstliche Verlängerung erzeugt unnötigen Frust. Der Weg endet, wenn man ankommt – nicht, wenn die Fluggesellschaft es vorgibt. Gleiches gilt für Unterkünfte: nicht buchen bis es vor Santjago eng wird. Maximal einen Tag voraus. Die Stornooption spart bares Geld.
  9. Kaloriendefizit pro Tag gewünscht? Bei 10 Kilometer am Tag Fehlanzeige. Zumindest habe ich nur 5 kg. verloren. Mindestens 15 eher 20 Kilometer pro Tag wären besser. Startgewicht zweistellig.


Ein Camino endet nicht in Santiago. Und auch nicht am Flughafen. Er endet irgendwo zwischen Erinnerung und Veränderung – und macht Platz für den nächsten. Vielleicht in drei Jahren. Vielleicht ganz anders. Aber eines ist sicher: Ich werde wieder gehen. Und wieder offen sein. Für alles, was kommt. Und wenn ich es schaffe, dann werde ich das Leben im hier und jetzt in meinen Alltag überführen. Jeden Tag.

Für mich endet er heute mit einer riesigen Überraschung. Meine Sany hat gezaubert und unsere Einfahrt in eine kleine Oase verwandelt. Sie hat gejätet, gesäht, gestrichen, gezimmert, gepflanzt und ihre Phantasie in einer wunderschönen Willkommensbar ausgelebt. Das ist meine Ankunft im hier und jetzt. Danke liebe Noemi, Paul und liebe Sany für euer Meisterwerk. Ich liebe euch! Bin wahrlich sprachlos. Glücklich.

Buen Camino!