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#Tag 23: Fast Unspektakulär

Heute ist ein entspannter, gewöhnlicher Tag. Nicht dramatisch, aber konsequent: Rund 250 Höhenmeter auf knapp 8 Kilometern. Klingt mit der zwischenzeitlichen Trainingszeit machbar, fühlt sich auch genau so an. Der Weg selbst? Unspektakulär. Kein großes Kino, keine Geistesblitze. Aber leicht und wirklich sehr entspannt. So federleicht, dass ich mich nicht wundern muss, dass ich auf diesem Camino vermutlich nur wenige Kilos gelassen habe. Fehlendes Kaloriendefizit mangels Kilometer – schade aber vorhersehbar.

Wichtigstes Utensil: Wäscheleine, fast täglich im Einsatz

Die einzig nennenswerte Show liefert heute ein – natürlich – ein Mensch. Genauer: eine hyperaktive Spanierin, die mit gefühlten 120 bpm über den Weg schießt – Arme schwingend wie ein durchtrainierter, überdimensionierter Metronom im Halbsekundentakt. Ihre Beine machen Schritte, für die man normalerweise mindestens zwei Flugtickets braucht. Neben ihr – oder besser gesagt: dauerhaft hinter ihr – eine Frau etwas über mittleren Alters hinausgeschritten, sichtlich erschöpft, entnervt und nur noch durch das Band der Mutterschaft an dieses Hochgeschwindigkeitswesen gebunden. Sie stöhnt, sie flucht, sie überholt mich mit einem Blick, der alles sagt. Und dann schimpft sie in meine Richtung los wie ein Rohrspatz, auf Spanisch. Sie gibt alles. Zeigt auf den Hügel an dessen Gipfel ich gerade eben noch den letzten Armschwung ihrer Tochter zu erhaschen vermag. Dann ist sie weg. Ich verstehe kein Wort – aber bei der Impulsivität verstehe ich alles. Guten Flug – gegebenenfalls auch mal „nein“ sagen. Könnte helfen!


Nach nicht ganz 10 Kilometern bin ich schon da. 14:30 Uhr. Mein Tagesziel ist erreicht, und das lange vor dem Abendessen. Ich habe Glück: Ein B&B Hotel nimmt mich auf – klimatisiertes Zimmer, sauberes Bett, riesige Regendusche und kein Krabbeltier in Sicht. Die übrigen Unterkünfte sind restlos ausgebucht, Santiago überfüllt. Ich hätte die letzten 6 Kilometer heute noch locker dranhängen können – aber ganz ehrlich: Ich brauche keine 100-Euro+ Deluxe-Koje zur Niederkunft. Denn alles was erschwinglich ist, ist hier schon lange ausgebucht. Ich will einfach in Ruhe ankommen. Morgen ist gebucht.

Wie es sich für einen Camino-Tag gehört, dusche ich. Dann Wäsche waschen, mangels Sonnenbalkon wird mit Fön angetrocknet und den Rest muss die Klimaanlage richten. Frisch und leichtfüßig will ich einkaufen und mir ein frühes Abendessen gönnen – da steht plötzlich José in der Hotellobby vor mir. Wie ein guter alter Bekannter – aus Peru gebürtig und er liebt es, der genau dann auftaucht, wenn man ihn nicht erwartet. Wir freuen uns riesig, denn Gespräche verbinden. Natürlich setzen wir uns und trinken einen Kaffee. Das Gespräch tiefgreifend wie immer – von 0 auf 200 – so das macht Spaß. Seine Familie braucht noch ein wenig Zeit zur Ankunft. Gut so – wir tauschen aus.

So endet der Nachmittag: mit leichter Strecke, zunächst mit guter Gesellschaft – und einer ganz leisen Vorahnung davon, wie sich morgen das große Ankommen anfühlen wird. Und das Beste: José und ich treffen gemeinsam in Santiago ein.

Den Abend lasse ich dann alleine mit einem DryAged-Beef vom „Custom Burger Shop“ auslaufen. Ein Geschmacksfeuerwerk von dem man noch lange träumen darf.


Während ich so dasitze, mein Abendessen genieße und langsam in den Vorabend übergleite, beobachte ich eine kleine Szene am Nebentisch, die fast schon wie eine traurige spanische Telenovela wirkt – nur ohne Dramaturgie und definitiv mit zu viel Alkohol. Zwei Herren, offensichtlich schon gut geölt, und eine Dame, ebenfalls nicht nüchtern, bilden ein ungleiches Trio. Die Männer reden laut, greifen immer wieder nach ihrem Glas – und nach ihr. Einer legt ihr die Hand auf den Rücken, küsst sie auf die Wange, kniet sich vor ihr nieder und der andere zieht spielerisch am Stuhl, als wolle er sie näher zu sich zerren. Sie, sichtlich entnervt, lässt das geschehen – zumindest vordergründig. Doch als sie zur Toilette geht, sehe ich es: ein kurzer, verdeckter Mittelfinger in Richtung Tisch. Eine stumme, aber klare Antwort auf ein klammes Machogehabe, das sich selbst für Charmant hält. Ich empfinde die Situation unangenehm – weil sie zeigt, wie normal übergriffiges Verhalten noch immer in manchen Runden ist. Und wie leise der Widerstand manchmal sein muss, um überhaupt gesehen zu werden. Stattdessen sollte er schreien, um Gehör zu finden!

Wenig später sitze ich in meinem Hotelzimmer am kleinen Fenster und beobachte das Treiben von oben. Abseits des Restaurants. Und trotzdem, es bleibt bei der Dramaturgie: Der eine Herr – der mit den Kniefällen und dem lauten Werben – taumelt alleine, sichtlich verärgert, den Berg hinunter. Wahrscheinlich hat er seine Chancen im Estrella-Bier vertan. Kurze Zeit später folgt die Dame, auf weißen Stöckelschuhen, begleitet von dem anderen Herrn. Sie steigen gemeinsam ins Auto. Vielleicht die bessere Wahl – vielleicht auch nur das kleinere Übel. Viele Grüße an den sicherlich drastisch überschrittenen spanischen Grenzwert von 0,5 Promille – sprich zwei kleinen Bier. Gute Fahrt und alles Gute!

Buen Camino!