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#Tag 22: Flow der Dankbarkeit

Es gibt Nächte, da schläft man wie ein Stein. Heute war ich zwei. So ruhig, so tief, so erholsam – ich wache auf und sehe: kurz vor 9:00 Uhr. Fast hätte ich mich selbst beglückwünscht, wäre ich nicht noch so erschlagen von der Müdigkeit der letzten Tage. Daher kullere ich eher wie ein vom Camino weichgeklopfter Brotteig aus dem Bett. Aber gut, ein kleiner Weg wartet – nur etwa 11 Kilometer, über zwei sanfte Hügel mit insgesamt nur 150 Höhenmetern. In Camino-Maßstäben quasi ein entspannter Sonntagsspaziergang.

Meine Beine erinnern mich noch schmerzhaft an gestern – besonders in der Nacht war es eher eine Art Live-Performance der müden Muskelgruppe „müde Pilgerbeine“. Aber wie immer: ein paar letzte Stunden Schlaf wirken Wunder, als hätten kleine Camino-Elfen meine Waden massiert. Ich starte – und bin sofort im Flow.


Ich laufe einfach. Ohne Nachzudenken. Nur ich und der Weg. In einer kleinem Tapas-Bar entsperre ich mein Handy – und da schlägt es mir „Die goldene Stunde“: ein Foto von Sany. Ja, du bist meine goldene Stunde. Meine Kraftquelle. Mein Zuhause. Ich liebe dich – und unsere kleine Familie. Danke, dass du mir diese Reise möglich machst. Dass ich das hier alles erleben darf.


Während ich so mit dem Handy in der Hand und Herz auf dem Display sitze, schreibt mir Steffi. Sie ist in Muxía angekommen – dem Ort, wo Wasser, Himmel und Seele sich begegnen. Die Klippen, die Brandung, die Gezeiten. Ein Ort, an dem jeder einmal im Leben stehen sollte. Für sie ist es womöglich ein ähnlich emotionaler Moment wie das „Ende der Welt“ – Finisterre – vor nur drei Jahren bei mir. Auch ihre Reise geht zu Ende. Der Alltag wartet. Was sie von ihrem Camino bewahrt, das wird sie selbst entscheiden.

Und bei mir so? Ich mache heute zwei lange Pausen. Eine nach 5 Kilometern, eine nach weiteren 3000 Schritten. Ich sitze. Ich genieße. Ich bin einfach da. Zwischen all den Wegen, Bergen, Bächen, Schweiß und Wanzen: Da ist dieses tiefe Gefühl von Dankbarkeit. Ich darf das hier erleben. Ich bin hier, „Treis“ von der unvergesslichen Herberge Alternativo. Danke für deinen Weg, deine Geschichte, die mich vor nur acht Tagen umlenken lies.


Und der Camino? Der trägt mich heute weiter. Die letzten zwei Kilometer führen direkt am Strand entlang. Eigentlich ein Ort zum Durchatmen, zum Runterschauen, zum Barfußlaufen. Und doch: Überall Displays. Ein Pärchen sitzt nebeneinander – sie sucht Zweisamkeit, er telefoniert, googelt, scrollt. Ein paar Meter weiter: Sonnenhungrige mit Blick Richtung Bildschirm statt Meer. Und ich? Ja, ich auch – erwischt. Leider. Ich halte kurz inne. Frage mich: Wann haben wir aufgehört, einfach nur da zu sein?


Dennoch. Weiter geht es – ich bleibe im Flow. Selbst die letzten 500 Meter über die Brücke vergehen wie im Flug. Die Beine, morgens um 6 Uhr noch wie zwei mürrische Maultiere, sind inzwischen auf Kuschelkurs. Alles kein Problem. Es geht dem Ende des „Camino Espiritual“ entgegen – mein letzter Tag auf dieser Route, mein letzter Hafen, meine letzte private Unterkunft vor der Rückkehr ins größere Pilgeruniversum. Und ich bin einfach … dankbar. Für dieses Leben. Für diese Reise. Für all die Möglichkeiten.


Am Kai entdecke ich kurz vor der Herberge einen Angler. Ich frage ihn, was er so fängt. Tintenfische, sagt er. Mal sind sie da, mal nicht. Heute: eher nicht. Aber er ist tiefenentspannt. Und ich denke: Vielleicht ist das genau die Haltung, die es braucht – beim Angeln, beim Pilgern, beim Leben.

Um 17:30 Uhr komme ich an der Herberge an. Die Füße? Schweigen. Kein Schmerz, kein Protest. Nur ein freundliches “Passt schon” aus dem Untergeschoss meines Körpers. Doch die Herberge ist leer. Kein Empfang, keine Stimme, kein Klingeln. Mal sind sie da, mal nicht. Ein Pilger erklärt mir: Letzter Check-in war um 17:00 Uhr. Hups. Zu viel Pause, zu viel Strand, zu viel Leben. Aber ich rufe die Mobilnummer an, die am Eingang hängt – und siehe da, die Dame ist am Strand. Ein bisschen Camino-Luxus. Sie kommt in Windeseile, nimmt mich und zwei weitere Nachzügler herzlich auf. Sie spricht kein Deutsch, ich kein Galicisch – aber wir haben Hände, Füße und ein gemeinsames Ziel: Ruhen.

Und mein Abend so:

Buen Camino!