Die Herberge von gestern war ein Glücksgriff. Modern, makellos sauber, mit hilfsbereiten Menschen am Empfang und einem Garten, der nicht einfach nur da ist, sondern wirklich zum verweilen einlädt. Ich hatte gestern Nacht spontan verlängert – mein Bein sagte: nicht weiter. Morgen ist Schontag.
Gegen 5:00 Uhr schleicht sich die erste Pilgerin leise aus dem Zimmer. Kein Licht, kein Lärm, alles vorgepackt. Startklar vor der Türe. Ich beobachte das im Halbschlaf mit stillem Respekt. Auch die anderen Zimmergenossen gehen später – verhältnismäßig ruhig. Aber an Schlaf ist eh nicht mehr zu denken. Ich sitze da, mit einer Mischung aus Unruhe und Fernweh. Ich will laufen. Ich will raus. Ich will weiter. Ich habe buchstäblich Hummeln im Arsch.
Also ziehe ich los. Kurzes Bein links, Stützstrumpf rechts. Schaut gut aus, denke ich und schlendere durch das kleine Hexendorf. Ich nehme eine andere Route als gestern, sie führt am Strand entlang. Neue Perspektiven auf ein vertrautes Dorf. Ein Luxusboot dümpelt halb gekentert im Wasser, interessiert niemanden – außer ein paar Touristen. Viel Geld für nichts. Genau mein Humor.
Ein paar Gassen weiter: Ruben. Strahlend. Überraschung. Wir hatten uns schon verabschiedet, er sollte längst in den Bergen sein. Aber: Er hat keine Kreditkarte, kann die Bootsfahrt nicht online buchen. Kein Problem. Ich buche für ihn, er überweist mir das Geld. Camino in Reinform: vertrauen, helfen, weitergehen. Obwohl nein, vorab noch einen Hornissensrich am Arm. Kann man machen.
Bevor sich unsere Wege trennen frägt er mich ob das Spielzeug von meinem geliebten Sohn echt ist? Woher kennt er es? Seine Frau liest meinen Blog – mein Schraubenmännchen. Na klar! Geburtstagsgeschenk auf reisen.
Eigentlich war heute Pulpo geplant. Ganz klassisch. Aber im Supermarkt lachen mich Nudeln an. Ich kaufe Pasta, Tomatensauce, frischen Emmentaler. In der Herberge keine Töpfe, kein Herd. Dafür Wasserkocher mit Mikrowelle. Es wird improvisiert: fünfmal kochendes Wasser im Wasserkocher mit abschütten. Plus Zeit, viel Zeit. Ergebnis: fast perfekt. Camino-Gourmet im Selbstbausatz.
Nach dem Essen: schlafen. Stundenlang. Beine hoch, Ruhe rein, Camino raus. Mein Bein? Fühlt sich besser an. Morgen geht’s weiter – ganz langsam. Die nächste Herberge? Liegt nach einem steilen Anstieg. Keine Reservierung möglich. Wer zuerst kommt, bekommt ein Bett. Klarer Vorteil für Frühstarter. Ich? Starte wie immer, wenn mein Körper es mir erlaubt. Ich renne nicht.
Andere Herberge, andere Sitten: Sie wollen meine kompletten Kreditkartendaten – alles. Wirklich? Für ein Bett? Wegen eines Schlafplatzes? Danke, nein. Ich lehne ab – natürlich. Und siehe da: Ein Zahlungslink reicht auch. Wahnsinn.
Am Abend sitze ich mit einer Italienerin im Garten. Ihr Mann ist zu Hause – glücklich über seine Ruhe. Sie lacht herzlich laut, als sie das erzählt und unterstreicht damit das Bild in meinem Kopf. Sie genießt ihre Freiheit. Sie erzählt von einem Leben, das sie komplett auf Hausbau ausgerichtet hat – und heute spürt, dass sie all das gar nicht braucht. „Das Leben“, sagt sie, „ist jetzt.“ Ich nicke. Und denke: Ja, sie hat recht. Das Leben will nicht viel. Nur Achtsamkeit. Und manchmal einen Platz im Grünen, ein gutes Gespräch und einen Stützstrumpf.
Um 20:00 Uhr gehe ich ins Bett. Auch ein Tag der Rast macht müde. Aber es ist eine gute Müdigkeit. Ruhe-Müdigkeit. Und die ist tief, ehrlich und schön. Ich freue mich auf morgen – vamos!
Buen Camino!