Heute ist mein vorletzter Tag auf dem traditionellen Massenpilgerkamino. Denn morgen Früh startet mein Abenteuer: Camino Espiritual – 700 Höhenmeter Natur pur, Einsamkeit, Wasserfälle, Bootsfahrt, Spirit und Jakobus oder zumindest seine abgetrennten Gebeine auf See. Ganz ohne Imbissbuden im Wald. Heute aber nochmal Camino pur. Roh. Ungefiltert. Inklusive Weckerkrawall und einer wilden Umleitung durchs halbe Paradies.
Der Morgen beginnt – wie so oft – im akustischen Ausnahmezustand. 5:00 Uhr: Erste Weckerrunde. Nur dumm, dass die Übermotivierten sie selbst nicht hören. Dafür aber alle anderen. In jedem Fall ich. Kurz danach werden sie dann doch noch wach und starten endloses Gepacke. Reißverschluss auf, Reißverschluss zu, Tütenrascheln, Seufzen, Socken sortieren, Furtzen in Echtzeit. Ich frage mich: Was packt man 45 Minuten lang zusammen? Ein Zelt? Ein Pferd? Eine neue Persönlichkeit oder gar mehrere? So viel kann kein Mensch tragen wie sie beladen.
5:45 Uhr sind sie los. Um 6:00 Uhr startet die zweite Runde hoch motivierter. Ich bleibe stur liegen. Meine Herberge gibt mich heute erst um 9:30 Uhr ab – so der Plan. Ich möchte heute mein alleiniger Rhythmus sein. Schlafen geht nicht mehr, also starte ich doch gegen 8:30 Uhr und laufe los. Bewaffnet mit seltenen Begleitern: Monster Energydrink und diverses Obst.
Vor dem ersten Anstieg gönne ich mir zwei Pfirsiche – süß, saftig, perfekt. Ich sitze gerade verträumt am Wegesrand an einem kleinen Bach, als zwei berittene Polizisten vorbeitraben. Eben noch vor meiner Herberge gestanden, jetzt reiten sie mit monotoner Gelassenheit über Stock und Stein und wenige Sekunden später haben sie sich in Luft aufgelöst.
Der Aufstieg? Lang, schweißtreibend, aber machbar. Dank frischem Tape an den Füßen halten sich auch alte Blasen zurück, die sich seit gestern überlegen reinkarniert zu werden.
Am Zenit des Berges wirkt ein findiger Geschäftsmann im aufgeklappten LKW. Sandwiches Presschinken und geschmolzener Käse, kühle Getränke – fünf Euro das Stück. Viel? Ja. Gut? Auch. Und hey – wer bergauf überlebt, darf auch bergoben frühstücken.
Kurz danach steht ein freundlich lächelnder, spanischer Herr am Wegesrand. Ein echtes Original, redselig, freundlich. Er empfiehlt mir den „Camino Complementario“. Etwas länger, aber entlang eines Flusses, mit Bäumen und Schatten. Die offizielle Route? Neben der Autobahn in praller Sonne. Ich nicke, denke: Vamos – los geht‘s und schon düse ich vorbei.
Erst auf einer halb zerbrochenen Baumschaukel im Wald merke ich, dass ich den Einstieg verpasst habe. Ich gehe zurück, finde den Pfad kaum. Kein Kaminostein, kein Pfeil, kein Wegweiser. Nichts. Zugewuchert, matschig, mit ein paar unschönen „Pilgertoiletten“-Überraschungen fein sauber und gut erkennbar. Wiederlich. Doch: Dahinter wartet Magie. Ein einsamer Pfad entlang eines kleinen Bachs. Vögel, Farne, Wildnis, Stille. So hat mich meine Wanderapp „Komoot“ vor schweißtreibenden Dorfbesichtigungen in der Mittagshitze bewahrt und den offiziellen „Complementario“ um 150% verlängert. Läuft.
Ich entdecke eine alte Ruine, laufe hinein, streune herum wie ein Kind auf Schatzsuche. Mein Schatz: einzigartige Erinnerungen. Kein einziger anderer Pilger weit und breit. Nur ich, die Natur und mein Staunen.
Stunden später lande ich in Pontevedra. Und wer begrüßt mich dort als Erstes? Aldi. Ich lache laut. Klar. Ich kaufe ein Garnelenpaket, ein Estrella Bier, finde einen schattigen Platz – und feiere mein persönliches Pilger-Gourmetmenü. Neben mir: ein Mann, der aussieht wie ein Pilger. Doch schnell wird klar – er lebt auf der Straße. Ich teile ein paar Garnelen mit ihm. Alles gut, bis seine Begleiterin auftaucht. Und dann wird es unschön. Er stößt sie ins Gebüsch, wird aggressiv. Sie blöken sich an und er zieht von dannen. Es ist ein hässlicher Moment. Aber auch das ist Realität – nicht nur der Camino, das Leben überhaupt.
Gegen 17:30 Uhr erreiche ich endlich meine Herberge. Nach 16 Kilometern – deutlich mehr, wenn man ehrlich ist. Der Flussweg war länger, aber so viel schöner. Ich bekomme ein schäbiges und völlig überhitztes Einzelzimmer mit einem Minifenster zu einer Innnenhofröhre. Schnappatmung. Ich lege mich hin. Schlafe sofort ein.
Am Abend frage ich den Herbergsbesitzer nach einem Tipp für gutes Essen – und er hat einen: eine Pulpería, etwa 15 Minuten entfernt. Sie macht erst um 20:00 Uhr auf und bietet dafür „den besten Pulpo der Welt“. Sagt er. Ich warte. Klar warte ich. Für guten Pulpo geht man auch barfuß über heiße Kohlen. Der Weg dorthin dauert ein bisschen länger – ich bin Pilger mit Tageskilometer in den Waden. Und ich habe heute keine Lust mehr zu laufen.
Endlich angekommen, das Lokal wirkt vielversprechend, es duftet, das Ambiente passt – nur leider ist kein Platz frei. Ausgebucht. Nada. Kein Pulpo. Für mich. Ich stehe da, hungrig, enttäuscht, und ehrlich gesagt auch tief frustriert. Ich hatte mich so darauf gefreut, so richtig. Ich hatte das Gefühl, heute wird Pulpo mein Camino-Highlight.
Also trotte ich zurück, hungrig, leicht geknickt – und lande, wie könnte es anders sein, beim Dönermann. Mein kulinarisches Schicksal scheint sich zu wiederholen.
Immerhin: Ich konnte zusehen, wie in der Pulpería die Krakenarme kunstvoll zubereitet wurden. Ein paar Fotos, ein paar Eindrücke – Pulpo zum Anschauen, nicht zum Essen. Wasserhöchststand im Mund. Camino eben. Man kriegt nicht immer, was man will.
Buen Camino!