Es ist 7:30 Uhr, als die Pilger mit frischem Kaffee in der Hand und schwerem Schuhwerk in den Tag poltern – vorbei an meinem Bett. Ich wache auf, fühle mich überraschend ausgeruht. Heute stehen fünfzehn Kilometer auf dem Plan, bergig herausfordernd zum Finale im Landesinneren. Keine schlechte Idee, früh loszuziehen.
Beim Eincremen entdecke ich: meine Füße sind inzwischen mit einer ansehnlichen Elefantenhaut versehen, die Waden für meine Verhältnisse „erstaunlich“ muskulös – zumindest sieht man Schattierungen. Auch mein kleiner Fitnessanzeiger am Handgelenk zeigt: Cardiokurve klettert sukzessive nach oben. Der Körper lernt, der Camino wirkt.
Ich laufe am Fluss entlang, genieße die Brise – es ist wunderschön, aber auch ein bisschen einsam. Kaum Pilger heute – nur zwei, keine Gespräche. Und ja, ich vermisse den Austausch.
Mittags dann Pause. Die Füße rebellieren, also streike ich auf einer Bank im Schatten eines Baumes. Ich mache ein Nickerchen – himmlisch. Danach bearbeite ich ein Stück Holz, das ich für meine Kinder gesammelt habe. Ich entferne alles Unnötige, glätte die Oberfläche. Fast wie eine kleine Meditation.
Und plötzlich, ist der Weg wieder schön. So einfach kann es gehen: Pause machen, durchatmen, Perspektive wechseln.
Die letzten zwei Kilometer lasse ich sausen – nicht, weil ich nicht mehr könnte, sondern weil ich nicht mehr müsste. Meine Hospitalera, bei der ich ein Zimmer gebucht habe, holt mich ab. Und dann wird es – wie sollte es anders sein – magisch.
Die Herberge „Pilgrims Rest“, Lauras Rückzugsort, ist ein kleines Paradies: Hängematten, Windspiele, leise Musik, eine Atmosphäre zum Innehalten. Sie hat das Haus für Pilger übernommen, um mit ihnen und sich selbst ins Gespräch zu kommen. Und genau das tun wir. Wir sprechen tief, ehrlich, offen. So offen, dass ich spontan entscheide: Ich bleibe morgen. Ich lasse los, was ich sollte – und tue, was sich richtig anfühlt.
Laura hat eigentlich frei. Aber öffnet für mich das Einzelzimmer mit eigenem Bad. Und irgendwie glaube ich, es ist für uns beide gut so. Sie erzählt mir: Der „neue“ Jakobsweg entlang der spanischen Küste entwickelt eine regelrechte kriminelle Energie. Die Personen, die Bootstransfers organisieren, nennen sie die „spanischen Piraten“ – und tatsächlich fallen viele Pilger vom historischen Hauptweg, dem ich folge, ihnen zum Opfer. Dieses Phänomen offenbart eine Schattenseite des modernen Pilgerns.
Von Steffi höre ich, dass ihr Weg gerade strapaziös verläuft: Die Infrastruktur auf der anderen Seite ist dürftig, es gibt wenig Herbergen. Lange Distanzen, wenig Rückzugsmöglichkeiten. Sie muss große Strecken zurücklegen – körperlich und mental fordernd. Das passt zu dem was meine Hospitalera erzählt.
Wir gehen heute Abend gemeinsam im Maria Moledo essen – frischer Fisch statt Ravioli. Der Weg dorthin? Eine Reise in meine Vergangenheit: 30 Minuten Fahrt, gegen mehrere Tage intensives Wanderns. Das Restaurant – versteckt hinter einem roten Tor, ein kleines Fest, still und friedlich.
Bacalhau kalt geräuchert – Spezialität des Hauses.
Und wieder spüre ich: es sind nicht die Kilometer, die zählen, sondern das, was du unterwegs entdeckst. Und heute flüsterte der Camino: Bleib. Und ich habe zugehört.
Bom Caminho!