5:45 Uhr, unbarmherzig. Zur Abwechslung mein Wecker. Die Stunde, in der selbst potentiell neue Bettwanzen noch schlafen. Ich stehe auf, mit nochmals gewachsenem Misstrauen gegenüber dem Einzelzimmer von letzter Nacht – es roch nach „schon zu lange nicht mehr richtig sauber“ und fühlte sich an wie eine Einladung an alles, was krabbeln und jucken kann. Trotz sorgfältiger Inspektion der Schlaffläche, Verzicht auf Zudecke – kein unnötiges Risiko – schlafe ich entsprechend: nervös – also fast garnicht – irgendwo zwischen unnötiger Panik und Paranoia. Und dann doch: Stiche, unbemerkt und überall. Ja, sie jucken. Stechmücken? Bettwanzen? Krabbeln im Kopf. Ich bin mittlerweile nicht mehr sicher, was dafür ursächlich ist, was meine inzwischen übersensible Pilgerphantasie sich diesbezüglich einfängt. Aber in diesem Fall finde ich Stechmücken. Lebend, zumindest für einen kurzen Moment. Außerdem fehlen die Straßen willkürlicher Stiche der Bettgetiere. Alles gut. Gattung „Culex“ – die gemeine Stechmücke. So schnell geht es und man freut sich wahrlich über Mückenstiche.
Dennoch, es bleibt das Gefühl. Bettwanzen. Wer einmal von ihnen besucht wurde, erkennt ihre Signatur mit geschlossenen Augen: die typischen Stiche, die Muster, das Jucken. Und trägt man – wie fast jeder hier bei 30 Grad im Schatten – kurze Kleidung, dann ist das alles für jeden sichtbar. Unübersehbar, unausweichlich. Man fühlt sich wie ein wandelndes Ekelpaket, als würde man den Satz „Ich bin kontaminiert“ auf der Stirn tragen. Der erste Blick in Herbergen wird zu einem kleinen Nervenspiel – nimmt man mich auf? Oder entledigen sie sich mir, bevor ich das Bett berühre? Bislang habe ich Glück gehabt. Keine neuen Stellen, die alten heilen ab. Alles schick, sagt die Haut. Nur das Gefühl bleibt: sich wie ein Aussätziger über den Pilgerweg zu bewegen. Es ist … sagen wir mal … eine sehr spezielle Art von Demut.
Aber hey, genug davon – der Camino ruft, und ich will heute pünktlich am Boot sein. 6:30 Uhr liege ich am Kai auf der Lauer, 7:05 Uhr starten wir. Die Überfahrt nach Padrón. Ein bisschen mystisch, ein bisschen Touri-Show, ein bisschen Delfin. Ja, wirklich: Delfine! Ich sehe sie – ganz kurz – sie begleiten die Muschelfischer, die gerade ihre Seile durch Maschinen ziehen. Die Muscheln frisch abgestreift, purzeln ins Sieb, die Fische stürzen sich auf die Bruchstücke – und die Delfine holen sich, die Bruchstückjäger. Fressen und gefressen werden. Das große Gleichgewicht. Ich versuche, ein Foto zu machen – keine Chance – unten schmeckt es besser als das viele Öl, dass unser Schiff (leider!) verliert. Aber die Delfin-Szene bleibt. Direkt abgespeichert in meinem Herzen.
An Bord unterhalte ich mich mit einer Finnin – auch ihr zweiter Camino. Sie ist durch mit dem Thema. Zu viel Kommerz, zu viele hohle Gespräche, zu viel Esoterik-Geklingel ohne Substanz. Und just in dem Moment erfüllt sich die Prophezeiung: Eine andere Dame hält lautstark einen Monolog über den Stein, den sie die ganze Strecke getragen hat, um ihn heute – bei den Kreuzen – dramatisch ins Wasser zu werfen. In Szene gesetzt. Gefilmt. Für Instagram. Fürs innere Gleichgewicht. Für die Likes. Sie selbst erzählt mir – emotional vom Eisberg geküsst: „Wow, war das ein bewegender Moment“. Bewegt hat es, so glaube ich, nur das Wasser. Aber jedem das Seine.
Zurück auf dem traditionellen „Camino Portugues official“. Erste Stadt – Padrón: Irgendwie nicht das, was mir versprochen wurde. Die Markthallen sind toll – Obst, Gemüse, Fisch, Fleisch. Zwei Pfirsiche für 1,50 €. Deren Genuss ist der schönste Moment in der Stadt – zumindest für mich. Danach heißt es: weiter. 12 Kilometer. Ich hatte mir mehr vorgenommen, aber Sany – meine goldene Stunde – hat mir heute klar gemacht, dass ich es mir auch einteilen darf. 27 Kilometer in drei Tagen – das ist wirklich reichlich Zeit. Ich möchte am 24. früh in Santiago ankommen, da dann der Bär steppt. Feuerwerk. Denn ich bin an diesem Tag sicherlich nicht der Einzige – aber wer ist das auf dem Camino schon?
Ich suche mir unterwegs ein Restaurant. Heute gibt’s Pilgermenü. Qualität geht so. Ich starte mit Octopus – Galicien, ich will dich schmecken. Danach? Eine gefühlte halbe Kuh auf Pommes. Ich schaffe es nicht. Lasse Kartoffel, Pommes und Kuchen liegen. Mein Magen ächzt: Wegen Überfüllung geschlossen.
Auf den letzten Metern entdecke ich noch etwas Unerwartetes: ein Truthahngehege. Ja, richtig gelesen. Zwischen Pilgerpfad und Endstation stolzierten da ein paar dieser urzeitlich aussehenden Federgetiere durch ihr Gehege, stolz wie Gockel auf Speed. Über Geschmäcker lässt sich bekanntlich streiten, aber hey – jeder Topf findet seinen Deckel. Dieser Truthahn auch. Nur wie?
Dieser Vogel ist nicht nur Glückspilz, sondern auch ganz klar Showmaster. Was auf den ersten Blick wie ein modischer Fehltritt aussieht – dieser wackelnde Fleischlappen über dem Schnabel, die knallroten Warzen und der halsige Hautvorhang – hat in Wahrheit richtig was auf dem Kasten. Der sogenannte Snood, also der Lappen über dem Schnabel, funktioniert nämlich wie das tierische Pendant zum Waschbrettbauch: Je stärker ausgeprägt und saftiger das Teil, desto attraktiver wirkt der Herr Truthahn auf seine Angebeteten. Und in Sachen Rangordnung ist das Teil gleich doppelt praktisch – wer den Längsten hat, gewinnt. Hmmmm. Zumindest bei Truthähnen.
Auch die warzigen Caruncles am Kopf und Hals spielen mit. Die Dinger färben sich je nach Stimmung rot, blau oder irgendwas dazwischen – quasi der Stimmungsring des Federviehs. Und der herabhängende Wattle, dieser Lappen unterm Kinn? Der hilft nicht nur beim Imponieren, sondern kühlt auch, wenn’s heiß hergeht. Der Truthahn ist also nicht nur optisch eine wandelnde Reizüberflutung, sondern ein evolutionäres Multitool aus Farbe, Fleisch und Feder. Und plötzlich sehe ich ihn mit anderen Augen – diesen Hahn im Glück mit doppelten Deckel.
Die letzten 2,5 Kilometer rolle ich den Berg hinauf. Nicht laufen. Rollen. Die Füße sind heute gnädig, die Müdigkeit hingegen nicht. In der Herberge angekommen, falle ich aufs Bett, ziehe die Schuhe aus und – Schlaf. Sofort. Camino-Nickerchen. Und danach Wäsche waschen und dann – ab in die Badewanne. Die Erste seit Wochen. Ein Traum!
Buen Camino!