Ein neuer Morgen auf dem Camino. Und er rockt mit einem allzu irdischen Geräusch: Klingelton, volle Lautstärke. Snooze. Klingelton, volle Lautstärke. Snooze. Klingelton. Snooze – Ein Priester aus Malta, offenbar selbst noch nicht ganz im Einklang mit seiner selbst auserwählten, göttlichen Frühaufstehpflicht ist, testet die Snooze-Funktion seines Handys so ausgiebig, dass ich ihm fast eine Litanei widmen möchte. Nach 45 Minuten spiritueller Schlafverzögerung verliert nicht nur mein Bettnachbar die Geduld – ich auch. Wir erklären dem ambitionierten Mann Gottes freundlich aber bestimmt (Bettnachbar von oben, ich von der Seite – Stereosound) die zwei neuen Gebote des Pilgerhostels: “Du sollst nicht nerven” oder “Du sollst verschwinden.” Er wählt Letzteres – Halleluja.
Kurz nach 9 Uhr starte ich hinterher – voller Vorfreude auf den Tag, der zwar wolkig, aber trocken werden soll. Ein kleiner Segen am Horizont den der Wasserblasenpriester aus Malta hinterlassen hat. Die Wade meldet sich noch nicht, aber ich merke schon: Heute wird es kein Spaziergang – 420 Höhenmeter auf 6 Kilometer Strecke – durchschnittlich 8% Steigung. Angereichert mit zahlreichen wilden Hunden. Ängstlich und Hilfsbedürftig.
Nach drei Kilometern, Pause. Ausblick vom Feinsten. Und wie aus dem Nichts: Maria! Nein, nicht die Jungfrau, sondern Maria aus Los Angeles mit zwei ihrer drei Kinder, die ich in der Herberge Alternativo (die mit den Kerzen) kennengelernt habe. Ihr Mann, bald wieder in New York zum arbeiten, schiebt das dritte Kind schlafend im neu gekauften Camino-Overland-Buggy durchs Gelände. Ich überlege kurz, ob ich flott adoptiert werden will. Aber nein, ich laufe lieber selbst.
Kurz darauf: freilaufende Pferde! Genau wie im Spoiler von Steffi angekündigt. Glocken um den Hals, Freiheit in den Hufen. Ein kleines Fohlen steht dabei, so schön, dass man fast vergisst, dass es immer noch bergauf geht. Eine Pilgerin zögert. Ein Pferd steht im Weg. Ich verstehe sie. Ich wäre auch lieber ein bisschen Pferd heute.
Seit gestern plagt mich ein fast unerträgliches Jucken. Überall rote Punkte. Und nicht zu knapp – ganze Biss-Straßen am Körper. Kann man haben, muss man nicht. Heidi ruft an – die treuen Leser erinnern sich: Camino Francés – medizinische Notrufe, WhatsApp-Beratung vom allerfeinsten. Ihre Diagnose nach meinen Bildern: Bettwanzen. Jep. Bett + Wanzen. Ich will mich am liebsten selbst desinfizieren, im Boden verschwinden und schäme mich – Grundlos sagt sie. Abhilfe: Teebaumöl, starkes Insektizid aus der Spraydose, Müllsack-Therapie mit Sonneneinstrahlung, 60°-Wäsche (alles, auch Merino) und Trocknerpflicht. Und danach im Zweifel alles neu kaufen, falls meine Merinosocken, Funktions-Shirt und sonstige Wäsche sich weigert, meine Wasch-Therapie zu umarmen.
Zu guter Letzt trifft heute Camino-Spiritualität auf Problemzone: die Erlösung gibt es erst in der nächsten Apotheke. Die ist drei Tagesreisen entfernt. Das macht drei weitere Tage mit Vampirgesindel, blutsaugendem Nervgetier – chancenlos, widerlich. Bähhhhh! Aber bringt nichts. Weiter geht es …
Wenig später kommt der Tageshöhepunkt – im wahrsten Sinne: 420 m Gipfel. Kurz denke ich über einen Abstecher zu einem Stein mit keltischen Zeichen nach der hier ausgeschildert ist. Doch der Himmel hat andere Pläne. Ein Donnerschlag, als würde Thor persönlich meinen Umweg beenden. Ich verzichte auf alte Steine und entscheide mich für das Leben.
Beim Abstieg wird es richtig steinig. Meine Wade? Begeistert ist sie nicht. Ich taste mich runter wie eine alte Bergziege mit Wanderstöcken. Unten wartet ein Mann mit Audi – der Inhaber meiner heutigen Bleibe – und rettet mich – zumindest meinen Rucksack. Ich selbst gehe weiter zum einzigen Restaurant das seit 8 Minuten geschlossen hat. Sie haben Mitleid und ich bekomme noch was zu essen – was noch da ist: Salat, Steak, irgendeine Beilage (Kartoffel). Überraschungsmenü.
Ach ja, der Hornissenstich von gestern? War wohl asiatisch. Invasives Gesindel. Klingt gefährlich, ist aber nicht dramatischer als ein spanischer Wespenstich. Immerhin eine gute Nachricht trotz knallrotem Arm. Schwellung inklusive.
Ich bin jetzt 8 Stunden unterwegs und der Camino wäre nicht Camino ohne Umweg. Meine Navi-Apps schicken mich in die falsche Himmelsrichtung. Eine deutsche Dame der dort ansässigen Gemeindeherberge erkennt mein Missverständnis, ruft den richtigen Herbergsvater – der mit dem Audi – er holt mich ab. Voller Dankbarkeit steige ich ein: „Happy End“ denke ich, aber da gehr noch was.
In der Herberge angekommen ruft Heidi an. Sie liest meinen Blog und hat hochgerechnet. Ich komme pünktlich zum wichtigsten galizischen Feiertag in „Santiago de Compostela“ an: zu ehren Jakubus seiner Haxen findet in dieser Nacht das größte Feuerwerk vor der Kathedrale statt. Ich grinse – der nächste Camino der mit einem Feuerwerk endet. Das wäre schön. Hoffentlich wohlverdient. Ich buche zur Sicherheit vor. Alle günstigen Zimmer sind weg. Daher wird es ein Hauch Luxus, 50 Meter von der Kathedrale entfernt.
Und danach? Es geht dann zu „Heidis‘ Place“ – drei Jahre nach unserer ersten physischen Zusammenkunft – das wird ein Fest, zwei ganze Tage. Dann Porto und dort vielleicht noch einen Abend mit Ruben und seiner deutschen Frau, dann Flugzeug, dann weg.
Ein Camino-Tag mit allem, was dazugehört. Nicht alles schön, aber so ist das Leben – eben. Nun kratze ich noch etwas vor mich hin und werde bald schlafen.
Buen Camino!