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#Tag 18: Camino Espiritual mit Hungertod?

Die Nacht war unerträglich heiß. Richtig heiß. Minifenster Fenster zum Kamin, kein Luftzug, nur der Ventilator, der wenigstens meiner Wäsche etwas Erleichterung verschafft. Immerhin: Sie ist am Morgen trocken. Ich nicht. Und dann, wie könnte es anders sein, um 4:00 Uhr fast das übliche Camino-Drama — nur anders: laute Gespräche, Fluchen, Türenknallen. Ich bin wach. Ich entscheide mich: Heute wird spät gestartet. Nur zehn Kilometer, kein Stress. Um 9:30 Uhr gehe ich los, erstaunlich gut gelaunt.

Die Strecke führt leckersten an Cafés vorbei, Auslagen voller süßer Verführungen, knuspriger Leckereien, dampfender Tassen. Ich bleibe standhaft – keine Lust. Noch nicht jetzt und bitte unnötigen Ballast vermeiden. Nur mein Monster darf mit. Prioritäten.


Nach drei Kilometern dämmert es mir: Ich hab keinen Plan, ob es in meinem Zielort überhaupt etwas zu essen gibt. Ich checke kurz – und siehe da: Nichts. Überhaupt nichts. Kein Laden, kein Café, kein Keks. Ich müsste jetzt 1,5 Kilometer zurücklaufen. Mach ich nicht. Ich vertraue dem Camino. Der Kühlschrank der Herberge wird schon was hergeben – heute wäre ich Nutznieser vorangegangener Geschichten. Und zur Not hab ich genug … sagen wir mal … körpereigene Reserven. Nur ein bisschen dumm, dass ich das nicht vorher gecheckt hab zumal mich Steffi vorgewarnt hatte.

Es sollte anders kommen: Ich mache Pause, da fährt ein Auto vor, verteilt Baguettes an die Häuser. Ich frag mit Händen und Füßen, ob sie eines übrig hat. Hat sie. Für 1,30 Euro bin ich stolzer Besitzer eines Baguettes, so lang wie mein rechter Oberschenkel. Ohne Belag, aber hey – kein Hungertod heute. Camino liefert.


Später sitze ich vor einer kleinen Kirche, frühstücke Baguette pur und beobachte das Dorf. Ich hätte gerne geschrieben, dass es ein wahnsinniges Geschmackserlebnis war. Aber nein, es war einfach ein Brot. Nahrung. Eine Frau fährt mit dem Traktor vor, ein Mann parkt das Auto mit laufendem Motor. Alle versammeln sich vor einer hölzernen Tafel. Dorf-Aushang. Und sie lesen ihn tatsächlich. Mit Interesse. Mit Austausch. In Deutschland hängen solche Zettel auch – aber da schaut keiner hin. Hier ist es ein soziales Ereignis. Hier wird hingeschaut. Hier zählt Gemeinschaft.


Hinter der Stadt wird der Weg natürlich schön. Ein paar kleine Abstiege über Stock und Stein. Nichts wildes aber – wie aus dem nichts – ein sehr schmerzhafter Stich in der rechten Wade. Ein Gefühl wie nach nächtlichem Krampf: Steinhart. Unangenehm. Der Schmerz ist gekommen um zu bleiben – meint er – und so humple ich den Rest des Weges. Vor einer Kirche kommt dann erstmals meine Massagepistole zum Einsatz. So wird aus einem wertvollen Geschenk ein hoch relevantes Utensil. Danke liebe Noemi 🤍, danke Willi.


Kurz vor Schluss – (k)ein Wunder: An einer Kreuzung der Hauptstraße entdecke ich das einzige Restaurant „Bar Asador o Remo“ auf dem gesamten Abschnitt. Von außen sieht es aus wie ein Autohaus, aber innen bzw. dem Garten? Einfach aber laut. Voll. Lebendig. Spanisch. Ich hab Glück – 15 Minuten vor Küchenschluss bekomme ich den letzten freien Tisch. Es gibt Pulpo, aber der DryAged-Kühlschrank lädt zu anderen Verlockungen. Feinstes Fleisch zieht hier das Publikum an. Ich korrigiere: allerfeinstes. Ich bestelle Entrecôte vom alten, iberischen Rind. Dazu Salat (Vorspeise), Brot, ein Glas Wein. Der Salat ist ein Essen für sich, das riesige Fleisch zerschmilzt mit einer Geschmacksexplosion auf meiner Zunge. Mit jedem Bissen. Wahnsinn. Es gibt wirklich schlechtere Nachmittage.


Zwei Kilometer noch zur Herberge – aber mit einem solchen Abendessen im Bauch rollt sich das wie von selbst.


Angekommen in der wunderschönen Herberge startet das Camino-Ritual: duschen, Wäsche waschen, aufhängen. Während ich meine sauber Kleidung im Wind drapiere, spielt sich vor meinen Augen eine außergewöhnliche Szenerie ab: Ein Wasserflugzeug landet und startet durch – immer wieder – vermutlich ein Löschflugzeug im Training. Einmal wird’s knapp, die Tragfläche streift das Wasser kurz nachdem es abgehoben war. Nochmal gut gegangen. Richtige Zeit, richtiger Ort – läuft.. Camino-Kino mit Nervenkitzel.


Beim Aufhängen gesellt sich ein sehr freundlicher Portugiese zu mir – Ruben. Wir kommen ins Gespräch – über den Weg, das Leben, das entschleunigte Tempo. Und vor allem – wie wenig es braucht um Glücklich zu sein. Ich würde es mit Achtsamkeit umschreiben – für sich selbst und andere. Ruben fährt mit dem Fahrrad, ganz gemütlich, ohne Plan, ohne Zeitgefühl, einfach dem Moment folgend bis Finisterre. Und er sagt diesen einen Satz, der mir bleibt: „Das Leben ist dafür da, es jetzt zu genießen. Nicht gleich, nicht in zehn Minuten, nicht in zehn Tagen, nicht in zehn Jahren – und schon gar nicht erst zur Rente.“ Recht hat er. Der Moment ist alles, was wirklich zählt.


Wir beschließen spontan in die Stadt zu gehen – nach Cambados, die Perle der Region. Hätte ich Ruben nicht getroffen, wäre ich an diesem Highlight unwissentlich vorbeigezogen. Guten Glaubens, dass das wunderschöne Dorf der Hexen – so nennt man es hier – erst später kommt. Besonders schön sei der Flair zu am Abend, sagt man. Und ich denke: Ja, genau meine Zeit. Zwei Kilometer Fußmarsch folgen. Langsam humpelnd und siehe da, das Hexennest ist wahrlich schön. Dort findet sich zugleich eine Apotheke: Kompresionsstrumpf ist angesagt.


Wir quatschen noch bis Mitternacht und uns die Hospitalera freundlich aus dem Garten verbannt. Ich gehe ins Bett und zum Schluss ruft die Wade: Pause!

Buen Camino!