„Wollt ihr zum Morgen eine bleibende Überraschung?“ – fragte unser Hospitalero gestern mit einem breiten Grinsen. Er weis schon – klar wollten wir. Alle. Zumindest kein Widerspruch. Der Deal: 6 Uhr geht es los – was auch immer. Warten, bis die Musik startet. Erst dann dürften wir den Vorhang öffnen.
6:00 Uhr morgens. Noch Nacht. Minimale Dämmerung, kein Hahn kräht. Stattdessen tönt ein „Ave Maria“ von Barbara Bonney aus dem Garten. Ihre Stimme glasklar wie die Nacht, sie schneidet sich butterweich durch die Dunkelheit – eine Freude für die Seele. Und dann: Vorhang auf.
Der Garten leuchtet – Romantik pur. Auf dem Esstisch alles voll mit Kerzen. Überall. Warmes Licht. Ein gedeckter Frühstückstisch, so liebevoll, dass selbst die Kirche in Santiago de Compostela neidisch weinen würde. Alles strahlt. Alles still. Alles perfekt. Wir frühstücken gemeinsam Brot, Marmelade und Käse.
Etwas später entschwinden die ersten Roadrunner im dunkeln. Einer davon meint vorab, er versucht Santiago in vier statt sportlicher fünf Tage zu erreichen. Ich schlage vor, er könne es auch in einem Tag versuchen, damit er die Zeit des Erlebens schneller hinter sich hat. Er stutzt und denkt nach. Gut so! Ein wirklich inspirierender Morgen. Gänsehaut. Wenn der Tag so beginnt, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.
Der Weg danach? Erst himmlisch. Glasklare Flüsse, Vogelgezwitscher, diese grüne Ruhe, die einem das Herz streichelt. Dann wieder: Abschnitte, bei denen man denkt, man sei plötzlich im Vorhof der Zivilisationsverweigerung gelandet. Müll, Gestank, Tristesse. Camino, du alter Wechselbalg.
Zwischendurch erstmals falsche Caminopfeile, welche prompt einige Pilger in die Stadt zum shoppen leitet. Ein paar davon kann ich retten.
Und wie immer: Die letzten Kilometer. Sie ziehen sich. Natürlich. Wie Kaugummi, den man mit aller Kraft versucht aus der Sohle zu piddeln. Aber hey – irgendwann kommt man an. Immer – heute dank Getränkeautomat an der Straße: Cola.
Der Rest? Erstmals unter 100 km bis Santjago. Sagte der Stein am Wegesrand.
Unsere Herberge heute: zehn Euro. Öffentliche Variante. Kein Schnickschnack, kein Bullshit. Dafür Matratzen mit Plastikhülle und Einmalüberzug aus Papier. Hält nix, reißt, man schwitzt und klebt fest. Entspannungsfaktor gleich null, Bettwanzenfaktor ebenfalls. Praktisch. Funktional. Laut raschelnd. Und auch das ist Camino. Wer auf Komfort hofft, soll ins Spa gehen.
Tina und ihr Sohn Richard sind ebenso hier. Wir sind ein Stück gemeinsam gegangen, haben geredet, geschwiegen, Berge überwunden – innen wie außen. Und wenn man sich jetzt umdreht und zurückschaut, sieht man: Ja, es waren wirklich Berge oder zumindest Hügel. Viele. Mittelhoch. Am Ende auf jeden Fall unterschätzt.
Am Abend gönnen wir uns noch einen kleinen Ausflug in die Taparia „Flora“ – hier hatten wir gestern das Bett reserviert. Und heute Storno (Stichwort: Plastikmatratze mit Einschweißromantik aus Papier). Ich kann die Ersparnis ganz gewissenlos in eine kulinarische Investition umwandeln: Pulpo für stolze 20 Euro? Ja, du hast richtig gelesen. Zwanzig. Euro. Für einen Teller gekochter, hauchdünner Oktopusscheibchen. Sehr lecker, keine Frage. Mächtig auch. Aber irgendwie … bitter. Denn ich erinnere mich gut: Vor drei Jahren hab ich in Galicien für 8 bis 10 Euro die gleiche Portion bekommen – vielleicht sogar mit mehr Herz und Paprikapulver. Geräuchert – versteht sich.
Klar, Preise steigen. Aber warum fühlt es sich plötzlich auch in Spanien an wie in einem Berliner Hipsterladen, wo man für Luft und Liebe extra zahlt? Ich hoffe, der Camino bleibt, was er ist – und wird nicht irgendwann von Preislisten überrannt, die einem das Pilgern verleiden und zum Luxus machen. Es scheint schon bald soweit zu sein. Schade.
Buen camino!