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#Tag 14: Tag der Kontraste

Die Nacht war… brutal. Irgendjemand hatte großzügig das Fenster aufgerissen – und dabei das Licht brennen lassen. Danke auch. Die Mücken nahmen die Einladung dankend an. Nicht einzeln, nicht in Grüppchen, nein – sie kamen in Schwärmen. In Armeen. Ganze Battalione formierten sich über meinem Kopf, flogen in enger Formation knapp am Ohr vorbei – in dieser ganz speziellen, hohen Frequenz, die irgendwo zwischen Tinnitus und Wahnsinn liegt. Sie landeten auf meiner Haut wie kleine Vampirdrohnen, saugten in aller Ruhe und starteten zum nächsten Tankflug.

Mein einstiges Anti-Brumm-Mückenabwehrgeschütz? Hatte ich – ganz rational – der Gewichtseinsparung geopfert. Jetzt bin ich Landefläche. Eine offene Einladung mit der Aufschrift: „Bitte bedienen Sie sich.“ Immerhin: Meine Füße, eingepackt wie eine Hochsicherheitszone. Der Rest? Freies Feld – es war einfach zu heiß. Offene Kratzstellen mussten vermieden werden. Ich übe mich also in stoischer Ruhe… zumindest äußerlich.

Morgens dann: alle Körper übersät mit roten Andenken. Und die Mücken? Die kreisen immer noch. Als wollten sie sicherstellen, dass wir bleiben.


Ich laufe früh los – eigentlich zu früh. Aber die Massen von Valença haben noch nicht aufgeschlossen, also nutze ich die Ruhe und lasse mich treiben. Die Landschaft ist grün, friedlich, der Weg schlängelt sich sanft durch kleine Wälder und Felder. Und dann – wie aus dem Nichts – treffe ich Tina wieder. Die Mutter aus Thüringen, unterwegs mit ihrem kleinen Richard im Kinderwagen. Wir laufen ein Stück gemeinsam, unterhalten uns über Gott und die Welt, das Leben, den Weg. Ich bewundere sie aufrichtig – was sie da leistet, ist kein Spaziergang. Das ist ein echter Kraftakt. Kinderwagen auf dem Jakobsweg? Da braucht es mehr als nur gute Schuhe.


Irgendwo zwischen „nirgendwo“ und „noch weiter weg“ hören wir plötzlich Musik. Kein Radio. Live. Da steht tatsächlich ein spanischer Chor mitten im Wald und singt für Pilger. Ich wiederhole: Mitten. Im. Wald. Es gibt Brötchen mit Serrano-Schinken, Kaffee, und diese eine Sorte Gänsehaut, die nur dann kommt, wenn etwas wirklich Besonderes passiert. Wir lassen uns treiben, schwingen weiter.


Später machen wir nochmal Pause an einem kleinen Spielplatz, ich ziehe schließlich alleine weiter – aber nicht weit. Und dann passiert’s: An einer kleinen, alten Brücke bleibe ich stehen. Unter mir plätschert ein Fluss, und plötzlich sehe ich Bewegung im Wasser. Drei kleine Otterbabys! Sie tollen herum, jagen sich gegenseitig, schnappen nach Blättern und verschwinden dann wieder zwischen den Steinen. Ich stehe da, ganz still, fast atemlos. Wo gibt’s denn sowas? Ein so seltenes Tier, einfach so, frei in der Natur – und ich darf zuschauen. Das ist kein Zufall. Das ist ein Geschenk.



Zwei Kilometer später: Herberge. „Casa Alternativo“. Geführt von einem Belgier und seinem Hund Otto. „Treis“ – so sein Name – bastelt hier permanent an neuen Projekten, schafft kleine Oasen: Pools, Liegemöglichkeiten, bunte Ecken zum Ruhen und Verweilen. Alles strahlt Ruhe und Freude aus – als hätte sich hier jemand sein kleines Paradies geschaffen. Neun Monate im Jahr lebt er hier, die restlichen drei reist er durch die Welt. Ein Lebenskünstler, ganz leise und wunderbar anders. Meditativ.


Am Abend sitzen wir alle gemeinsam am großen Tisch der Herberge. Dreizehn Menschen, acht Nationen. Multikulti. Jeder mit seiner Geschichte, seinem Tempo, seinen Wehwehchen. Aber heute teilen wir diesen Moment. Es gibt Wasser. Es gibt Wein. Es gibt Pasta mit Auberginen und allerlei buntem Gemüse. Alternativ im „Casa Alternativo“, klar. Die Küche ist vegan, wie zu erwarten. Niemand vermisst das Fleisch. Im Gegenteil. Es schmeckt einfach unfassbar gut.


Nach dem Essen gibt uns Treis wertvolle Tipps für die nächsten Etappen. Er rät uns, ausgewählte Herbergen anzusteuern, die besonders schön, besonders herzlich, besonders … camino sind. Er kennt sie – ist alle 7 Caminos an einem Stück gelaufen bis er seinen Ort der Ruhe fand. Ohne Geld, 5 Jahre zur Miete. Dieses Jahr wird sein Ruhepohl gekauft. Er strahlt.


Und dann schwärmt er vom „Camino Espiritual“ – eine Alternative, die viele auslassen, weil sie 35 Kilometer länger ist. Doch am Ende wartet eine Bootstour und macht den Zusatz wieder weg. Warum dieser Weg? Der führt durch Wälder, so grün, dass man meint, sie atmen. Mit Wasserfällen, plätscherndem Licht und Stille, die spricht. Ich spüre es sofort: Das ist mein Weg. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Aber ich will es versuchen. Vielleicht ist genau dieser Umweg der eigentliche Weg. Ja. Er wird es sein.


Auch morgen verlasse ich den traditionellen Pfad. Der würde durch Industriegebiete führen – triste Grauzonen der Zivilisation. Stattdessen nehme ich den längeren Weg. Fünf Kilometer mehr. Dafür Natur pur. Wälder, Wiesen, Weite. Ein guter Tausch. Auch das ist Camino: Nicht der offizielle Weg zählt. Sondern der, den dein Herz auswählt. Der, der dich ruft. Und manchmal flüstert er leise: „Hier entlang – lohnt sich.“


Heute war ein Tag der Kontraste. Von Mückenmassakern zur Morgenmusik, zu Otterbegegnungen zu alternativen Herbergsoasen. Und das Beste: Der Weg hat wieder einmal bewiesen, dass er gibt, was man nicht erwartet – aber genau dann, wenn man es am meisten braucht.

Buen Camino!