Man entschwindet früh ein in der Herberge in das Land der Träume – eingebettet von der Erschöpfung des Wanderns und tiefer Dankbarkeit. Doch der Camino garantiert keine Nachtruhe. Die Nachzügler kommen, leise zwar, aber nicht lautlos genug. Und zack – Schlafpause. Und am nächsten Morgen? Da klingeln um 6:30 Uhr die ersten Wecker, gefolgt von… nichts. Die Jungs sitzen rum, starren auf ihre Handys, tun – nichts. Ich hätte gern noch eine Stunde geschlafen. Aber gut, so ist das eben mit dem Gemeinschaftsleben auf dem Camino: charmant chaotisch.
Ich lasse mir Zeit mit dem Start. Trinke einen Kaffee in der Morgensonne, telefoniere mit meiner Familie – ein Stück Zuhause mitten im portugiesischen Licht. Und dann entdecke ich das kleine Schraubenmännchen, das mir mein Sohn zum Geburtstag geschenkt hat. Es sollte mit – und es hat es geschafft. Ab heute taucht es immer wieder auf meinen Fotos auf. Ein kleiner Reisebegleiter mit großer Bedeutung.
Zum Frühstück gibt’s wieder die leckeren Trauben von gestern und zwei dieser perfekten Pfirsiche. Gesund kann so einfach sein. Während ich draußen sitze, füllt sich der Weg plötzlich mit Pilgern – ein ganzer Strom, den ich gar nicht erwartet hatte. Natürlich: die frühe Stunde, die vielen Kilometer. Ich bleibe noch sitzen. Ich muss ja nicht.
Derweil tummeln sich dutzende kleiner Fischerboote. Die Männer darin angeln ruhig vor sich hin. Kein Lärm, keine Eile – nur Wind, Wasser und Geduld. Und ich denke: So ein Leben könnte ich mir auch vorstellen. Vielleicht. Irgendwann.
Und dann bemerke ich wieder das Wunder des Lebens. In der Vorbereitung hatte ich nach jeder Wanderung heftiges Rückenbrennen. Heute trage ich 8 Kilo auf dem Rücken – und (fast) nichts tut weh. Auch die Hüfte, die ich noch kurz vor der Reise in der Physiotherapie habe „optimieren“ lassen, ist ruhig. Nur eine nervige Blase hat es durch die Prävention geschafft. Nervig, ja. Aber beherrschbar. Schmerzmittel helfen. Und ich laufe einfach weiter – leicht verwundert, wie gut mein Körper und ich uns plötzlich verstehen.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich losgelassen habe. Ich habe Medikamente dabei, einen Massagestab, Faszienhelferlein – aber brauche davon: nichts. Ich hätte alles zu Hause lassen können. Weil das Leben eben anders kommt, als man denkt. Warum also glauben so viele Unternehmen immer noch, sie könnten planen und vorhersehen? Die Realität ist selten so, wie sie auf dem Papier aussieht. Auf dem Camino wird das auf Schritt und Tritt spürbar.
Nach etwa fünf Kilometern mache ich eine Pause. Kirschen, Pfirsich, Füße lüften – es braucht nicht viel zum Glück. Frisch gestärkt gehe ich weiter – und lande plötzlich in einem kleinen Eukalyptuswald. Ich pflücke ein Blatt, zerreibe es zwischen den Fingern. Der Duft ist intensiv, balsamisch – wie ein intensives Erkältungsbad zu Hause, nur dass ich gerade mitten auf dem Weg bin, im Staub „Portugues“ unter freiem Himmel. Es ist einer dieser kleinen Momente, in denen man fast vergisst, dass man gerade unterwegs ist. Weil alles so leicht ist. Und gleichzeitig so klar und so beschwerlich – je nachdem wohin man hört.
Und ich frage mich: Sind diese Eukalyptuswälder hier eigentlich erlaubt? Wegen ihrer ätherischen, leicht entzündlichen Öle gelten sie ja vielerorts als brandgefährlich und sind verboten. Vielleicht ist auch das typisch portugiesische Kultur – dass die Dinge hier trotz Risiken wachsen dürfen. Und ja, es gibt auch in Portugal ganze Plantagen davon erzählt mir wenig später eine Pilgerin mit silbernem Spaceschirm als Sonnenschutz, die bereits seit 4 Wochen von Lissabon unterwegs ist.
Die Hitze wird mit jeder Stunde intensiver. Kein Wind. Kein Schatten. Ich flüchte mich in eine kleine Kirche – kühl, ruhig, wohltuend. Dort treffe ich eine deutsche Pilgerin, Lehrerin von Beruf, und wir führen ein langes, tiefes Gespräch. Beim Weitergehen treffe ich zwei weitere deutsche Pilgerinnen, die mich freundlich auf einen aufkommenden Sonnenbrand an meinen Waden hinweisen. Wir laufen gemeinsam, tauschen Geschichten, lachen – bis ich merke, dass ich unbewusst ihr Tempo übernommen habe. Zu schnell für meine Füße. Die Vernunft siegt über die Unterhaltung – und so verabschieden wir uns.
In Fão finde ich schließlich eine Herberge – die öffentliche war bereits ausgebucht, also buche ich ein Vierbettzimmer. Was ich nicht ahne: Ich lande im Paradies. Ein kleiner, verwunschener Garten mit Swimmingpool, Sonnenliegen, einem Wäscheständer für meine noch klamme Wäsche von gestern – und einem riesigen, kühlen Bad. Ich kann mein Glück kaum fassen.
Als Zimmergenossin lerne ich Dominika aus Polen kennen. Wir sitzen zusammen im Garten, reden, lachen, tauchen ein in wohltuende Gespräche. Endlich angekommen auf dem Camino – nicht nur körperlich, sondern auch innerlich. Und ja, sogar in gekühltem Ambiente und einer eisgekühlten Flasche Weißwein.
Wenig später gesellt sich Christian zu uns, ein deutscher Pilger, und wir beschließen, den Abend gemeinsam zu verbringen. Wir suchen ein kleines Restaurant, das aussieht, als hätte es uns gerufen – und vielleicht war es genau so. Der Besitzer, ein Mann mit offenem Lächeln und weichem Blick, scheint Pilger zu lieben. Er überschüttet uns mit Aufmerksamkeit: kostenloser Wein, zum Abschied ein Gläschen Portwein – und als Krönung schenkt er uns bemalte Kieselsteine, die er selbst gerade eben noch gestaltet hat.
Wir essen portugiesischen Bacalhau – gehackter Fisch, wild vermengt mit Reis, Kräutern und Herzlichkeit. Es schmeckt herrlich. Es schmeckt nach Ankommen.
Und als wir später durch die laue Abendluft zurück zur Herberge schlendern, bin ich still. Still und erfüllt. Weil das Leben eben manchmal doch genau weiß, was man braucht – und es einem einfach so vor die Füße legt. Ganz ohne Plan.
Das Leben ist schön. Heute ganz besonders.