7:00 Uhr klingelt mein Wecker. Meiner. Endlich mal wieder. Ich bin noch müde, denke darüber nach, mich einfach noch mal umzudrehen. Keine Lust auf die morgendliche Pilgerwelle, die sich wie ein Lavastrom aus Trekkingstöcken, aufgescheuchten Gesprächen und der Hoffnung auf die Compostela durch die Gassen wälzt. Also bleibe ich liegen. Starte erst um 8:30 Uhr. Die beste Entscheidung des Tages.
Es sind nur noch sechs Kilometer. Sechs. Ein fast lachhaftes Stück. Und doch – ich laufe sie mit einem seltsamen Gefühl. Kein Triumph, kein Kloß im Hals, kein Glitzer. Es ist ruhig. Fast zu ruhig. Ich hatte mit Horden gerechnet, mit Trubel, mit emotionalen Explosionen. Stattdessen: nur ich, mein Rucksack und ein unaufgeregter Weg in Richtung Ziel.
Erstmals entscheide ich mich heute gegen den schöneren Weg – zugunsten einer kleinen Abkürzung. Spart mir etwa einen Kilometer. Vielleicht ein Symbol: dass es heute nicht mehr um den Weg geht, sondern ums Ankommen oder ist es eine Fügung um José wieder zu treffen?
Und dann – an einer Kreuzung hinter mir: „Michael!“ – José. Es war also Fügung. Er ist um 6:30 Uhr los, wie auch immer er das geschafft hat. Wir laufen gemeinsam weiter, sprechen über Gott, den Camino und das perfekte Spiegelei. Er will es und zwar jetzt! Leider macht uns die spanische Küchenlogik einen Strich durch die Rechnung: Frühstück mit Pfannenbedarf gibt es erst ab 13:00 Uhr. So sagt man. Aber irgendwo finden wir doch ein Café. Ein bisschen Brot, ein bisschen Kaffee, ein frühes Spiegelei – für José – mit viel Austausch.
Nach dem Frühstück verabschiedet er sich. Seine Familie holt ihn ein, sie wollen gemeinsam einziehen – zur Kathedrale, ins Ziel, ins große Finale. Sie haben das Gepäck im B&B gelassen, holen es abends mit dem Auto. Für mich endet daher unser gemeinsamer Weg 1,4 Kilometer vor der Stadtgrenze. Dachte ich. Später dann Gewissheit: Wir sehen uns nicht wieder.
Und natürlich darf sie nicht fehlen: die Compostela – jene Urkunde, die offiziell bestätigt, was meine Füße längst wissen. Geschafft!
Ich betrete das Pilgerbüro, den Ort, den ich noch vom Camino Francés kenne. Damals glich er einem überfüllten Freizeitpark: Schlangen, Nummern, Warteschleifen. Heute? Kein Mensch. Alles digitalisiert. Ich gebe Startpunkt, Laufzeit, Namen und Personalausweisnummer ein – auf einem Touchscreen, der wohl mehr Pilger gesehen hat als manche Herberge. Keine fünf Minuten später halte ich zwei Dokumente in der Hand. Die große, die „Compostela“, mit meinem Namen auf Latein, und eine zweite mit Kilometerangabe – stolze 280 Kilometer. Wahrscheinlich sind es eher um die 300, rechnet man das Herumschlendern, das Essenssuchen und das Verlaufen (was ja auch dazugehört) dazu. Der Moment selbst? Völlig unpersönlich. Aber dennoch schön. Ich bin glücklich – nicht wegen des Papiers, sondern weil es ein kleiner, stiller Abschluss einer großen, stillen Reise ist. Und dann? Klar ich treffe gefühlt Gott und die halbe Camino-Welt.
Martina ist da – auch sie war Teil der Herberge Alternativo, der Ort der Kerzen, der frühen Morgenstunden und der besonderen Verbindungen. Sie hat mir Porto als Rückflug empfohlen – heute haben wir auch gemeinsam den Bus dorthin gebucht. Samstag geht’s los. Sie ruft auch von hinten „Michael – sowar doch dein Name, oder?“ und ich antworte mit ja. Wir treffen uns wenig später noch mal zum Kaffee und am Abend verabreden wir uns zum Abendessen und Feuerwerk.
Wenig später: die Dame aus der Kirche, mit der ich mich bei der Hitze in der stillen Kapelle ausgetauscht hatte. Wieder ein gutes Gespräch. Sie erzählt mir, dass sie unterwegs „unseren Schwaben“ getroffen hat – sie sprach ihn mit Namen an, meinte: „Du bist doch der Schwabe?“ Er sei fast aus den Schuhen gekippt. „Woher weißt du das denn?“ – „Na, ich lese den Blog von Michael“. Seitdem liest er mit. An dieser Stelle: ein herzliches Grüß Gott an unseren schwäbischen Pilger!
Und dann, vor der Kathedrale, wie ein Abschied im Bilderbuch: Maria mit ihren drei Kindern. Die Schwiegertochter von José. Auch sie sind heute früh angekommen, und wie durch Fügung begegnen wir uns noch einmal. Oder Glück. Ein letztes gemeinsames Foto. Ein kurzer Moment. Ein schönes Ende der gemeinsamen Reise.
Am späten Nachittag treffe ich eine andere Pilgerin wieder, die mir schon in den Tagen zuvor begegnet war. Heute ist sie sichtlich mitgenommen – sie hat gerade erfahren, dass heute – während ihrer Abwesenheit in ihre Wohnung eingebrochen wurde. Alles wurde durchwühlt, ein großes Durcheinander, der Schock sitzt tief. Kein schönes Ende für ihren Camino, der eigentlich mit innerer Einkehr und Freude enden sollte. Wir sprechen nur kurz, aber es wird schnell klar: Manchmal holt einen das Leben schneller zurück, als einem lieb ist.
Heute ist die große Nacht – Santiago, der Feiertag, das Feuerwerk. Überall Polizei. Überall schwer bewaffnete Einsatzkräfte, Panzerfahrzeuge, ernste Gesichter. Ganz großes Kino. Ein Anblick, der etwas Beklemmung hinterlässt. Aber wir lassen uns den Abend nicht nehmen. Nicht heute. Nicht nach all dem.
Am Abend treffen sich Martina und ich wieder – ein kleiner Kreis, ein vertrautes Gefühl. Sie isst am liebsten vegetarisch, ich will Pulpo. Galicien hat da seine Prioritäten, und meine liegt heute ganz klar beim Oktopus. Wir entscheiden uns für das Mesón O Polar Ría, eine Empfehlung mit vielversprechenden Google-Bewertungen. Und was soll ich sagen? Es ist ein Gedicht. Der Pulpo – zart, würzig, perfekt gegart – zergeht auf der Zunge wie Butter im Sonnenlicht. Eine wahre Geschmacksexplosion. Danach gehen wir zurück auf den Platz vor der Kathedrale, der sich langsam füllt. Sehr, sehr langsam. Seltsam, alles gut?
Unweit der Kathedrale beginnt schon seit dem frühen Nachmittag ein emsiges Treiben: Menschen bauen, arrangieren, streuen, schichten – irgendetwas Großes entsteht da. Ich beobachte es zwischendurch immer wieder neugierig. Und als das Werk schließlich vollendet ist, bleibt mir fast die Sprache weg. Ein riesiges Bild, ein Kunstwerk auf dem Boden – und soweit ich sehen kann: Alles, wirklich alles aus Blumen. Jede Linie, jede Fläche, jeder Farbverlauf besteht aus Blüten, Blättern, Blütenstaub. Diese Präzision, dieser Fleiß, diese liebevolle Detailarbeit – sie verdienen mehr als nur ein Foto fürs Handy. Sie verdienen Hochachtung. Und meinen tiefen Respekt. Danke, dass ich das sehen durfte – so still, so schön, so vergänglich. Wie der Camino selbst.
Die Stimmung bleibt festlich auch wenn wir am falschen Ort warten. Daher leer! Und das Feuerwerk? Unweit auf einem anderen Hügel. Egal, die Aussicht von meinem kleinen Standortwechsel ist perfekt und mein Lächeln bleibt. Und die hintereinander geschalteten bewegten Bilder, die ich machen darf, erzählen den Rest – von Freude, von Erfüllung, von einem unbeschreiblichen Camino, der nun wirklich langsam zu Ende geht.
Bis zum 28.07. geht es weiter – noch neue Highlights mit alten Bekannten. Zuerst Heidi (die „Hospitalera aus dem Internet“) und zum grandiosen Finale in Porto: Ruben mit seiner lieben deutschen Frau. Es bleibt aufregend. Natürlich.
Buen Camino!